Hier geht es zu Teil 1 und zu Teil 2
Russland ist ein normales und ein besonderes Land, soweit ich das nach jeweils etwa zweiwöchigen Aufenthalten in St. Petersburg und Moskau einschätzen kann. Wobei mir auch klar ist, dass sich von diesen beiden Städten nicht einfach auf das ganze Land mit seiner Vielfalt schließen lässt. Der französische Soziologe Emmanuel Todd hat es unlängst nach vier Tagen Moskau-Aufenthalt in einem Interview mit der Schweizer Zeitung Die Weltwoche treffend zusammengefasst:
«Alles war viel normaler, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Menschen starren auf ihre Handys, sie konsumieren und bezahlen mit Kreditkarten, sie benutzen E-Trottinetts [E-Roller – Anm. d. Red.] wie in Paris. Der große Unterschied war, dass alle Rolltreppen und Aufzüge funktionierten. Man kann normal mit den Leuten reden.»
Das ist genau das, was wir in zwei Wochen auch gesehen und erlebt haben, neben allem anderen. Das Leben in der russischen Hauptstadt ist so normal, dass nur wenig zu bemerken ist, dass es sich um die Hauptstadt eines «Landes im Krieg» handelt. Letzteres zeigte sich vor allem an den Sicherheitsvorkehrungen an allen öffentlichen Orten, an den strengen Kontrollen am Eingang zum Pressezentrum, an den weiträumigen Absperrungen um den Kreml und des Roten Platzes sowie an den Uniformierten an vielen Punkten der Stadt.
Wir sahen immer wieder Patrouillen der Spezialeinheit OMON, mit Maschinenpistolen bewaffnet, die einzelne Personen anhielten und kontrollierten. Selbst in Kaliningrad, wo wir am Schluss der Reise noch einen Tag waren, gab es Patrouillen der Росгвардия (Rosgwardija), der russischen Nationalgarde. Auch der Zugang zum Park Pobedy (Park des Sieges) war am 9. Mai bewacht und kontrolliert von Polizei und Nationalgarde.
Das berühmte Moskauer Kaufhaus GUM (alle Fotos: Tilo Gräser)
Die Zugänge zu Metrostationen und Bahnhöfen wurden ebenso überwacht und gesichert wie auch die Eingänge von Einkaufszentren. Immer wieder wurden unsere Rucksäcke überprüft und durchleuchtet. Das geschah auch am berühmten Kaufhaus GUM am Roten Platz. Dort wollte uns am vorletzten Tag unseres zweiwöchigen Aufenthaltes ein besonders eifriger Sicherheitsmann beinahe nicht reinlassen.
Wir wollten eigentlich nur mit unserem russischen Begleiter etwas von dem berühmten Moroschenoje, dem legendären Moskauer Eis, kaufen. Doch den Sicherheitsverantwortlichen am Eingang irritierten unsere Presseausweise, die wir aus praktischen Gründen noch an einem Band um den Hals trugen. Besorgt fragte er unseren Begleiter, was die Journalisten im GUM wollen, und kontrollierte unsere Taschen.
Er machte sich «Sorgen um Russland», wie er erklärte – und ließ uns zum Glück doch durch. Wir holten uns das Eis und gingen wieder an ihm vorbei raus, natürlich nicht ohne die Bemerkung, dass er sich nun keine Sorgen mehr machen muss.
Ukrainische Spuren
Sicher spielt im Leben der Moskauer eine Rolle, was in der Ukraine geschieht. Dafür sorgen nicht nur die ukrainischen Drohnen, die die Hauptstadt und ihre Randgebiete und Vororte angreifen. Dafür dürfte auch sorgen, wenn Moskauer als Soldaten in die Ukraine gehen und zurückkommen, schlimmstenfalls verletzt, oder den Einsatz nicht überleben.
Vom Krieg ist aber insgesamt in Moskau sehr wenig zu sehen: Nur vereinzelt wird an Bushaltestellen und an den Eingängen zu Geschäften für den bezahlten Militärdienst für die russische Armee in der Ukraine geworben. Manchmal gibt es Plakate zu sehen, die auf die neuen «Helden Russlands», die in der Ukraine im Einsatz waren und sind, aufmerksam machen.
Eine der Anzeigen an einer Haltestelle
Wir hörten zwar von einer Moskauerin, dass das Wort Ukraine Stück für Stück aus den Schulbüchern gestrichen werde. Aber der Киевский вокзал, der Kiewer Bahnhof, heißt immer noch so, wie auch die dazu gehörige Metrostation immer noch die Киевская (Kiewskaja) ist. In deren Gängen sind an den Säulen immer noch die Bilder und Mosaike aus der sozialistischen Zeit zu sehen, mit Motiven des gemeinsamen Lebens mit dem russischen und den anderen sowjetischen Völkern.
Wir saßen an einem der ersten Tage mit einem Kollegen aus Moskau im ukrainischen Restaurant «Корчма» (Kortschma), nahe der Metrostation Nowokusnezkaja, und machten eine kulinarische Reise in das Nachbarland. Es habe sich kaum etwas verändert seit 2022, erzählte unser Kollege, nur, dass die Speisen jetzt als «slawische» angepriesen würden. Aber die Kellnerinnen und Kellner kamen weiterhin in ukrainischen Nationaltrachten an die Tische. An beiden Abenden, an denen wir dort waren, war das Restaurant mit seinen vier Etagen gut besucht. Es gibt noch eine zweite Filiale nahe dem Kreml, von der andere Deutsche schwärmten, die wir trafen.
Der prachtvolle ukrainische Pavillon auf der WDNCh am Abend
Etwas sahen wir vom Krieg aber doch: Im ukrainischen Pavillon auf dem Gelände der einstigen Allunionsausstellung und heutigen WDNCh (ВДНХ – Выставка Достижений Народного Хозяйства; auf Deutsch: Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft) ist inzwischen das Museum der «Speziellen Militäroperation» (SWO) untergebracht, wie der Krieg in der Ukraine offiziell heißt. Wo einst die Errungenschaften der Ukrainischen Sowjetrepublik ausgestellt waren, werden erbeutete und abgeschossene Waffen der ukrainischen Truppen sowie deren Abzeichen wie solche des neofaschistischen «Asow»-Regiments gezeigt. Außerdem sind Darstellungen der eingesetzten neuen russischen Waffen zu sehen, allesamt mit Pflanzennamen, von «Magnolia» bis zur inzwischen berühmten Rakete «Oreschnik» (Haselnusstrauch). Dazu gibt es unter anderem Nachbauten eines russischen Unterstandes und Listen mit in der Ukraine gefallenen Soldaten.
Überraschende Metro
In den Maitagen um den 80. Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus bestimmte dieser Anlass das Stadtbild. Das reichte von Fahnen an den Häusern – meist die russische und die dunkelrote Moskauer Flagge mit dem drachentötenden Heiligen Georg, seltener die sowjetische Siegesfahne – über Flaggenreihen an Brücken bis hin zu großen Plakaten an Wänden oder auch kleinen Aufklebern «Победа» (Pobjeda – deutsch: Sieg) an den Fahrzeugen der Stadtreinigung oder von Baufirmen. Die Hauptstadt war geschmückt für den großen Feiertag, vorher und auch noch Tage danach.
Der 9. Mai war zwar gesetzlicher Feiertag und für viele arbeitsfrei, aber dennoch waren die Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte offen, am Jahrestag selbst und jeweils am Sonntag. Und natürlich war auch alles andere um das alltägliche Leben weiter in Gang, einschließlich der legendären Metro. Wobei die uns überraschte, als wir am 9. Mai rechtzeitig um 6 Uhr im Internationalen Pressezentrum sein wollten, um eine Chance zu haben, bei der Parade dabei sein zu können.
Wir waren sehr früh aufgestanden und dachten, wir könnten gegen 5 Uhr ins Zentrum fahren. Etwa eine halbe Stude dauert die Fahrt von der Station Pionierskaja zur zentralen Station Alexandrowskij Sad, wo sich gleich nebenan das Pressezentrum befand. Doch wir standen früh am Morgen, der ziemlich kalt war, vor verschlossenen Türen.
In der Metrostation Majakowskaja
Ein Metro-Mitarbeiter erklärte uns, dass die Züge erst wieder ab kurz vor 6 Uhr in Richtung Zentrum rollen. Das hat mich dann doch überrascht, weil ich dachte, dass wie in Berlin die U-Bahn eher startet. Zuvor hatten wir einen anderen Unterschied bemerkt, nämlich wie häufig und pünktlich die Metro fährt und wie gut das ausgebaute Netz der verschiedenen Linien funktioniert – im Gegensatz zu Berlin, dieser Möchtegern-Weltstadt.
Als wir im Pressezentrum nach der Eingangskontrolle samt Temperaturtest und Leibesvisitation ankamen, klappte das mit dem Versuch, die Sieges-Parade zum 80. Jahrestag direkt erleben und sehen zu können, dann doch nicht. Es war auch für viele russische Kollegen nicht ersichtlich, wie diejenigen ausgewählt worden waren, die auf der Liste der begehrten Plätze auf der Tribüne standen. Die bekamen ihre Karten für den Zugang und wurden poolweise hingeführt.
Es gebe nur 300 entsprechende Plätze für die insgesamt etwa 4.000 akkreditierten Journalisten, begründete einer der Verantwortlichen das Njet auf die Frage, ob wir dabei sein können. So sahen wir die Parade auf dem großen Bildschirm im Pressezentrum und konnten uns zumindest kostenlos die zahlreichen Fotos davon für die Presse herunterladen. Wir hatten auch interessante Gespräche, so mit einer Kollegin aus Georgien und mit einer russischen Journalistin.
Der Eingang zum Internationalen Pressezentrum nahe dem Kreml am 9. Mai
Letztere beklagte, dass sie auch nicht zur Parade kam, was ein Jahr zuvor noch für alle angemeldeten Medienvertreter möglich gewesen sei. Das kann mit der angespannten Sicherheitslage zu tun gehabt haben, nach den ukrainischen Drohungen selbst gegen die angekündigten Staatsgäste zur Siegesparade. In und um Moskau sollen an dem Tag zahlreiche Luftabwehrsysteme stationiert worden sein, um mögliche Drohnenangriffe abzuwehren.
Es gab in den Tagen vor dem 9. Mai entsprechende massive ukrainische Drohnenattacken auch gegen das Moskauer Gebiet. Das führte unter anderem dazu, dass die Flughäfen der Hauptstadt am 6. Mai teilweise den Flugverkehr einstellten und zigtausende Passagiere strandeten und nicht weiterkamen. Das traf auch eine Gruppe Deutscher, die nach Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad fliegen wollten, um dort den Feiertag zu erleben. Ein Teil von ihnen kam erst verspätet weiter, während die anderen sich dafür entschieden, in Moskau zu bleiben.
Deutlicher Unterschied
Das war trotz der vielen Touristen und des Feiertages problemlos möglich und dank der freundlichen Hilfe von russischer Seite. Das macht eine der Besonderheiten Russlands aus: Die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen, auch ihre Offenheit selbst Deutschen gegenüber. Die haben wir immer wieder erlebt. Auch wenn es natürlich ebenso Fälle gab, in denen wir die typische Schroffheit russischer Verantwortlicher für was auch immer zu spüren bekamen, und wenn es nur an einer Garderobe war. Aber das war insgesamt eher selten und in jedem Fall galt die Empfehlung, ruhig und geduldig zu reagieren, was immer wieder half.
Blick in das «Aljonka»-Geschäft am Boulevard Arbat
Meistens begegneten wir Menschen, die uns mit ihrer Offenheit und Gastfreundlichkeit überraschten: Von Viktor, der uns zu sich nach Selenograd einlud, über die hilfsbereiten Mitarbeiterinnen in unserem Hotel und den lächelnden Verkäuferinnen im Schokoladen «Aljonka» und im Supermarkt, die den deutschen Gästen ungefragt Rabatt gaben bis hin zu der Lehrerin in Kaliningrad am letzten Tag vor der Abreise, die uns half, die richtige Busstation zu finden und gleich ihre Telefonnummer gab, falls wir nochmal Hilfe brauchten. Von solchen Begegnungen berichteten auch die anderen Deutschen, die wir in Moskau trafen, und für die das – wie für uns – zu den besten Erinnerungen an die Reise gehört.
Ich habe gemeinsam mit meiner Begleiterin erlebt, wie wir als Journalisten aus dem offiziell «unfreundlichen» Deutschland zuvorkommend wie alle anderen behandelt wurden, schon im Konsulat in Berlin, von der Pressestelle des russischen Außenministeriums oder der Akkreditierungsstelle für die Feierlichkeiten zum «Tag des Sieges». Nirgendwo schlug uns im Ansatz so etwas wie Ablehnung oder gar Hass entgegen.
Dagegen wurden zuvor russische Journalisten aus Deutschland ausgewiesen, auch ein Kollege, den wir in Moskau trafen. Ihnen warf unter anderem die Berliner Ausländerbehörde vor, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden, weil sie angeblich Propaganda für die russische Politik sowie den Krieg in der Ukraine machen würden. Das wurde zwar mit keinerlei Beweisen belegt, aber die allein politisch begründete Ausweisung wurde aufrechterhalten und durchgesetzt.
Moskau geschmückt für den Feiertag
Das macht den Unterschied aus zwischen Russland, das den Sieg der sowjetischen Armee und ihrer Alliierten vor 80 Jahren feierte, und Deutschland. Letzteres vermittelt auch in diesem Jahr den Eindruck, als wollten sich die Nachkommen der Verlierer des von ihnen begonnen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion an den Siegern beziehungsweise deren Nachkommen rächen.
Wobei es nicht das Land ist und (hoffentlich) auch nicht die Mehrheit der Deutschen, die diesen Eindruck vermitteln – dafür sorgen Politik und tonangebende Medien. Eine Lehrerin aus Moskau sagte, dass die russischen Menschen sehr wohl wissen, wer Hetze und Hass in Deutschland verbreitet. Sie würden unterscheiden zwischen der normalen Bevölkerung und dem einen Prozent Politiker in Deutschland.
Fortsetzung folgt